1. August-Rede in Winterthur
Stahl plädiert für mehr Vertrauen.
REITHALLE: Nationalratspräsident Jürg Stahl (SVP) beschwor in seiner Rede zum 1. August den Wert der Zivilgesellschaft. Im Gegensatz zu Parteikollegen verzichtete er auf nationale Mythen und Angstmacherei und forderte stattdessen mehr Vertrauen.
Artikel: Deborah Stoffel
Foto: Heinz Diener
Vier Auftritte lagen schon hinter ihm, als der Nationalratspräsident und ehemalige «Tössemer Bueb» Jürg Stahl (SVP) gestern Abend ans Mikrofon in der Reithalle trat. Es sei schön, hier sprechen zu dürfen, am Ort, wo er das Polithandwerk gelernt habe, sagte Stahl. Allerdings: Auch wenn er bereits acht Monate im Amt sei – Reden seien noch immer nicht seine Sache. «Es kostet mich Überwindung und ich muss mich gründlich vorbereiten.»
Die Bescheidenheitspose liegt ihm, aber auch das Anschauliche. Stahl entwickelte seine Rede anhand von vier Gegenständen. Als Erstes streckte er eine Armbanduhr in die Luft – «einen Schweizer Zeitmesser, der nur funktioniert, wenn alle Teilchen zusammenspielen». Der metaphorische Duktus der Rede war damit gesetzt. Stahl unterbrach ihn aber wiederholt mit Anekdotischem und hatte hier seine besten Momente.
Grossvaters gute Uhr
Die Uhr habe ihm sein Grossvater geschenkt, erzählte er. Dieser habe sie für 25 Jahre treue Arbeit in der Fabrik geschenkt bekommen. «12 Jahre vor meiner Geburt. Jetzt können Sie rechnen, wie alt die Uhr schon ist», sagte der 49-Jährige. «Und sie läuft immer noch.»
Die Schweiz, ein Land der Qualität, der Beständigkeit – Stahl malte ein positives Bild. Er wolle darüber reden, was in der Schweiz funktioniere, sagte er. «Denn allzu oft sehen wir nur, was nicht funktioniert.»
Auch eine Glocke, wie er sie im Nationalrat läutet, hatte Stahl im Gepäck, ein Geschenk von Freunden, in einer Emmentaler Glockengiesserei mit einem Griff aus Tessiner Kastanienholz gefertigt. Diese Glocke werde er in genau fünfzig Tagen läuten, um den Namen des nächsten Bundesratsmitglieds bekannt zu geben, sagte Stahl, ohne jeden parteipolitischen Nachsatz.
Wider die Misstrauenskultur
Sein drittes Mitbringsel war ein Sackmesser, ein Geschenk der Bundespolizei. «Sie wissen vielleicht, ich habe eine Sammlung Sackmesser daheim – seit ich das einmal öffentlich gesagt habe, wächst sie nur noch schneller», sagte er. Nicht die Messer selbst, sondern die Geschichten, die er damit verbinde, seien ihm wichtig. So wie jeder seine Geschichten mit sich herumtrage, Geschichten, die zusammen das Bild einer vielseitigen Schweiz formten.
Genau sechs Seiten hatte der letzte Gegenstand: ein Würfel aus Stahl. Dieser habe Ecken und Kanten, und er sei ein «Glückssymbol», das es auch erlaube, einen Blick in die Zukunft zu werfen, sagte er. Und dann klang Stahl, der zuvor in Metaphern den Wert der Zivilgesellschaft beschworen hatte, plötzlich politisch, aber so gar nicht wie viele in seiner Partei. «Ich wünsche mir eine Schweiz, die von gesundem Vertrauen geprägt ist», sagte er. «Niemand soll naiv sein. Doch achten wir darauf, dass unsere bewährte Vertrauenskultur nicht einer Misstrauenskultur Platz macht, dass unsere Grosszügigkeit nicht der Missgunst weicht.»