Ehrliche Freude
Kein Blender, kein Polterer, kein Politstar – bloss Jürg Stahl.
Als Politiker und Nationalratspräsident hinterlässt Jürg Stahl keine Spuren. Doch als Chef von Swiss Olympic will sich der SVPler ein Denkmal setzen und die Olympiade 2026 ins Land holen. Wer ist der Mann, der sich selbst als Durchschnittstypen beschreibt?
Text: Peter Meier
Foto: Beat Mathys
Der Stolz hat an diesem Mittwochmorgen im Mai ein freundliches rundes Gesicht. Jürg Stahl strahlt. Kerzengerade, das Kreuz durchgedrückt, eine Hand im Hosensack, tritt er aus der imposanten Holztür. Darüber steht in goldenen Lettern: «Präsident». Das bin ich, sagt Stahls Gesicht. Präsident des Nationalrats, höchster Schweizer, ganz offiziell. Das Büro in der Südostecke der Wandelhalle ist sein temporäres Refugium im Bundeshaus. Einladende Geste, fester Händedruck: «Willkommen. » Der 49-Jährige, dunkler Anzug, helles Hemd, dezente Krawatte, grinst noch immer.
Seit einem halben Jahr ist Stahl nun schon im Amt. Trotzdem wirkt er so, als müsse er sich ab und an kneifen, um es selber zu glauben. Als staune er noch immer, dass einer wie er das geschafft hat. Vom Drogistenlehrling zum Nationalratspräsidenten. Oder es ist die ehrliche Freude darüber, dass es dafür kein Poltern, Aufschneiden, Blenden brauchte. Dass es sich in der Politik manchmal lohnt, Geduld zu haben und einfach seinen Job zu machen. Unauffällig, pragmatisch, zuverlässig. So, wie er das seit bald 18 Jahren im Nationalrat tut – als ein Zahnrädchen von vielen in der Bundesberner Machtmechanik.
Leichtgewicht ohne Feinde
Stahl zieht den Kittel aus, setzt sich an den Besprechungstisch in der Mitte des ehrgebietenden Präsidialbüros, schenkt sich ein Glas seines geliebten Rivella ein. Im Bundeshaus wird der SVPler allseits gelobt und für seine umgängliche, kooperative Art geschätzt. «Krankenkassen-Lobbyist» ist so ungefähr das Schlimmste, was man über Stahl zu hören bekommt, weil er seit 2004 Teilzeit im Direktorium der Groupe Mutuel arbeitet. Doch wer keine echten Feinde hat, gilt im Haifischbecken eben auch als Leichtgewicht.
Politisch hinterlässt der Winterthurer tatsächlich keine bleibenden Spuren. Er ist bisher weder als lauter Galerieschwätzer noch als ausgebuffter Stratege oder gar charismatischer Vordenker aufgefallen. Meist stehen dem Winterthurer andere vor der Sonne, heimsen Aufmerksamkeit und Schlagzeilen ein. Natürlich habe ihn das anfangs irritiert und auch gewurmt, gibt er freimütig zu. Aber er politisiere halt unspektakulär. «Ich bin ein Normalo», sagt Stahl und lehnt sich im Stuhl zurück.
Ehrliche Einsicht
Es klingt weder aufgesetzt noch resigniert. Eher abgeklärt und eingemittet. Man kauft es ihm ab, dass er mit seiner Rolle als Teamplayer im Hintergrund völlig zufrieden ist: «Es gibt in der Politik eben wie in jeder Mannschaft die Lauten, die sich in den Vordergrund drängen, und die Ruhigen, die still ihre Arbeit machen.»
Er sagt das mit der Gelassenheit eines Mannes, der weiss, dass er nicht mehr jedem beweisen muss, was er kann. Er ist als Politiker biederer Durchschnitt und steht dazu. So viel Einsicht wünschte man sich bei manch einem seiner Ratskollegen.
Auch als höchster Schweizer agiert er leise. Er sieht sich als Vertreter all jener im Land, die sich im Job, in der Familie, im Quartier oder im Verein ohne grosses Aufheben engagierten und verantwortlich dafür seien, dass so vieles so gut funktioniere. «Das verkörpere ich selbst», so Stahl, «und darum bin ich vermutlich auch glaubwürdig.» So viel Bodenständigkeit kann leicht langweilig wirken. Andererseits: Der inzwischen dienstälteste Zürcher SVP-Nationalrat wurde fünfmal nach Bern gewählt.
Kein ideologischer Pitbull
Nervt es ihn eigentlich, weitherum nur als halber Rechter zu gelten, weil er nirgends aneckt? «Ich unterscheide mich vielleicht im Auftreten und in meiner Sprache von einigen Parteikollegen», schmunzelt Stahl. Er ist kein ideologischer Pitbull, der sich im Rededuell in sein Gegenüber verbeisst. Seine Rhetorik ist weder besonders geschliffen noch besonders scharfzüngig.
Parteisoldat mit Demut
Er hört zu, redet bedächtig, wird nie laut, sucht den Konsens. Seine Erklärung: Er habe einen Frauenberuf gelernt und als Drogist stets in einem Umfeld gearbeitet, das von Frauen geprägt gewesen sei. «Ich merke, dass ich eine andere Ausdrucksweise habe und Auseinandersetzungen anders angehe.» Politisch aber ist er meist linientreu, gerade bei den Kernthemen – kein strammer, aber ein hoch loyaler Parteisoldat.
Wer Stahl über Leben und Karriere reden hört, spürt rasch die Demut. Er weiss, dass es für ihn gut gelaufen ist, besser jedenfalls als für viele andere. Dass es womöglich ganz anders, vielleicht noch besser hätte laufen können – was solls. Stahl ist keiner, der jammernd zurückblickt.
1994 wählten die Winterthurer den damals 26-Jährigen auf Anhieb von Listenplatz 47 in den Grossen Gemeinderat. Mit 29 Jahren war Stahl dort Fraktionspräsident, mit 31 wurde er Nationalrat, im Jahr darauf Winterthurer Gemeinderatspräsident. Ein Blitzstart, der Erwartungen weckte. Auch bei ihm.
Zwei Tiefschläge
Dann kam der Rückschlag. Bei der Ausmarchung für den Winterthurer Stadtrat galt Stahl 2001 schon als gewählt. Eine einzige Stimme lag er vor seiner SP-Konkurrentin. Doch diese eine Stimme war im falschen Stapel gelandet, wie die Nachzählung ergab. Statt ihm zog die SP-Frau in die Stadtregierung. Einige Monate später trat der SVPler bei den Gesamterneuerungswahlen wieder an, erreichte auch das absolute Mehr, schied aber als Überzähliger aus.
Zwei Tiefschläge, die Stahl taumeln liessen. Doch ohne diese hätte er später in Bern nicht seine Frau Sabine kennen gelernt, wäre vor gut anderthalb Jahren nicht ihr Töchterchen Valérie zur Welt gekommen, würde er jetzt nicht als höchster Schweizer durchs Land reisen.
Nicht schön, aber keine Affäre
Auch das erklärt, warum Stahl das Ratspräsidium so viel bedeutet. Und warum er dabei alles richtig machen will. «Im Präsidium haben wir keine formellen Fehler gemacht und das Programm gut durchgebracht, zudem herrscht im Rat eine gute Diskussionskultur», lautet denn auch bezeichnenderweise sein positives Zwischenfazit.
Kurz vor Amtsantritt brachte ihn indes eine Schnapsidee ins Stolpern. Darauf angesprochen, verdreht Stahl die Augen. Damals fragte er hiesige Spirituosenhersteller um Gratisproben an – als «Grundausstattung» fürs Büro und die Bewirtung seiner Gäste. «Höchster Schweizer bettelt um Schnaps», musste Stahl dann etwa über sich lesen. Nicht schön, aber auch keine Affäre. «Das war vielleicht etwas ungeschickt von mir», bekennt Stahl. Aber es sei ihm darum gegangen, hiesige Produkte zu würdigen und ihnen eine Plattform zu geben.
Der olympische Traum
Der Vorfall hat ihn noch vorsichtiger gemacht. Das politische Tagesgeschäft will Stahl derzeit nicht kommentieren. Er sitzt nun etwas steif am Tisch, ist auf der Hut, als lauerten überall Fallen. Das zeigt sich auch, als die Rede auf seine zweite grosse Aufgabe kommt, die nach dem Nationalratspräsidium seine Agenda ganz bestimmen wird: Stahl ist seit Ende 2016 auch Chef des Sportdachverbandes Swiss Olympic und will die Olympischen Winterspiele in die Schweiz holen – Sion 2026 heisst das Ziel, das zugleich sein grosser Traum ist.
Wie viele seiner Generation sei er mit dem Sapporo-Virus infiziert worden, erzählt der ehemals erfolgreiche Kunstturner und Leichtathlet, als Bernhard Russi 1972 im fernen Japan Abfahrtsgold holte. Seither ist der Sport zur prägenden Konstante in seinem Leben geworden, erst als Aktiver, später als Funktionär.
«Die olympischen Werte bedeuten mir viel», sagt Stahl. «Dass sich die ganze Welt im 2-Jahres-Zyklus zum friedlichen Wettkampf in so vielen verschiedenen Sportarten misst, das ist einfach grossartig.» Das Strahlen im Gesicht flackert wieder auf – und es wird klar: Da sitzt ein hoffnungsloser Sportromantiker.
Herzblut wird spürbar
In der Bevölkerung hingegen verlieren die traditionellen Botschaften der Spiele zunehmend ihre Wirkung. Allein in den letzten vier Jahren wandten sich potenzielle Gastgeber reihenweise ab – von München bis Krakau, von Rom bis Stockholm, von Budapest bis Boston. Zuletzt sagte im Februar auch das Bündner Volk Nein.
Skepsis und Widerstand seien gewachsen, räumt Stahl ein. Aber im Wallis habe es in den letzten zwei Dekaden auch drei positive Volksabstimmungen gegeben: «Ich wehre mich dagegen, dass man immer nur das Negative heranzieht. Es liegt an uns, in der Schweiz die Begeisterung zu wecken.»
Stahl hat nun im Gespräch fliessend den Modus gewechselt. Er ringt sich nicht länger wohltemperierte Sätze ab. Er kämpft jetzt und lässt Herzblut spüren.
Vernunft statt Gigantismus
Und was ist mit all den Dopingskandalen, den Bestechungs- und Korruptionsaffären rund um die Spiele und das Internationale Olympische Komitee (IOK) – blendet er das alles aus? Nein, antwortet Stahl. All das gebe es, und es sei zu bekämpfen, gar keine Frage: «Aber ich blicke nach vorn und fokussiere darauf, was funktioniert und was verbessert werden kann.» Ist das noch Blauäugigkeit oder schon Verdrängung? Ein Grund, auf Sion 2026 zu verzichten, ist es für Stahl jedenfalls nicht.
Er will für die Schweizer Kandidatur ein «vernünftiges Konzept » vorlegen. Den Beweis erbringen, dass es auch ohne Gigantismus geht. «Die Schweiz verfügt schon über eine hervorragende Sportinfrastruktur», so Stahl. Deshalb brauche es für die Kandidatur nicht Unsummen wie etwa bei den letzten Winterspielen in Sotschi. Diese kosteten 54 Milliarden Franken. Für Sion 2026 sind 1,7 Milliarden budgetiert.
Das sei natürlich immer noch «sehr viel Geld, um das wir kämpfen müssen», sagt Stahl, «aber die Schweiz bekommt dafür auch etwas zurück». Kritiker bezweifeln indes heftig, dass Wirtschaft und Tourismus profitieren würden. Doch Stahl sieht in Sion 2026 eine «einmalige Chance» für die Schweiz. Und auch ihm bietet sich damit die Chance auf ein Vermächtnis.
Am Ende vors Volk
Seine Hoffnung setzt der olympische Chefpromotor vorab auf die Agenda 2020, das verabschiedete Reformpaket des IOK, das künftig die Bewerbungskosten für Olympische Spiele senken und die Transparenz erhöhen soll. Nach vielen Gesprächen mit dem IOK und mit anderen nationalen olympischen Komitees glaubt Stahl, dass es sich durchsetzen wird. Zeichne sich aber ab, dass die Agenda 2020 ein Papiertiger bleibe, «dann werden wir die Reissleine ziehen», betont Stahl. Wers glaubt.
Am Ende kommt wieder die Bodenständigkeit des SVPlers durch. Sion 2026 sei eine grosse Nummer. Er werde alles daransetzen, dass das Projekt gelinge: «Ob ich es schaffe, ist eine andere Frage.» Am Ende müsse das Volk entscheiden, «ob unsere Arbeit und unsere Argumente gut genug sind». Stahl weiss, dass Parolen und Plattitüden dafür nicht genügen werden.