Jetzt ist Stahl am Zug
Grosser Auftritt für den Leisetreter: Der SVP-Nationalrat JÜRG STAHL ist für ein Jahr der höchste Schweizer. In den Skiferien in Arosa gibt es für den Winterthurer nur eine Königin: Tochter Valérie.
Text: Michelle Schwarzenbach
Fotos: Remo Nägeli
Valérie chräsmet auf ein Kartonkistchen, reckt ihre Ärmchen in die Höhe und strahlt, als hätte sie gerade Gold gewonnen. «Bravo!», ruft Jürg Stahl, «und jetzt jubeln wie eine Siegerin.» Er holt eine Medaille aus dem Schrank, will sie seiner 15-monatigen Tochter zum Spass um den Hals hängen – da hält er plötzlich inne: «Besser nicht, sonst heisst es: Was für ein ehrgeiziger Vater!»
Für Jürg Stahl, den alle «Tschüge» nennen, ist das Rampenlicht noch «gewöhnungsbedürftig». Seit 17 Jahren sitzt der SVP-Mann aus Brütten ZH im Nationalrat. Der 49-Jährige gilt als stiller Schaffer, in den Medien findet er kaum statt. Nun überschlagen sich die Anfragen: Seit drei Monaten ist Stahl Nationalratspräsident – und damit der höchste Schweizer im Land. Der Ehre nicht genug, wurde er im letzten November auch noch zum Präsidenten von Swiss Olympic gewählt. Mittlerweile besitzt er zwei Handys.
Aber Anrufe nimmt er an diesem sonnigen Februartag keine entgegen. Mit Frau Sabine, 38, und Tochter Valérie verbringt er ein paar Tage in seiner Ferienwohnung in Arosa. Auf dem Esstisch stehen Teller mit dampfenden Spaghetti. Sabine und Jürg Stahl strecken einander die Faust entgegen und «chlöpfen» auf ihre Eheringe: «En Guete!»
Als sich das Paar kennenlernt, ist er 32, sie 21. Der neu gewählte Nationalrat sucht eine Wohnung in Bern, sie hat eine zu vergeben. Also kommt er vorbei, im Anzug und mit Aktentasche. Sie denkt: «So ein Schminggu!» – ein Aufschneider. Dem Hausbesitzer gefällt der «Schminggu». Und Sabine ist froh, «dass er wenigstens meine hässlichen Möbel übernahm.» Verliebt haben sich die beiden erst später. «Ich wollte doch keinen Zürcher!», ruft Sabine, die in der Nähe von Bern aufgewachsen ist. «Aber ich bin doch ein Winterthurer», entgegnet Stahl. Die seien leiser und weniger geltungssüchtig. «Aber das sage ich besser nicht zu laut.»
Als Nationalratspräsident steht Stahl stärker unter Beobachtung. Vor seinem Amtsantritt bat er drei Schweizer Spirituosenhersteller um Gratisproben ihres Sortiments, um seinen Gästen etwas anbieten zu können. Dafür wurde er von Kollegen von links und rechts lautstark gerügt. Stahl schickte den Schnaps zurück. Aber davon abgesehen, stand er noch nie im Kritiksturm. Er eckt nicht an, polarisiert nicht. SP-Nationalrätin Chantal Galladé sagt: «Tschüge ist verlässlich und fühlt sich der Sache und den Menschen verpflichtet. Man kann gut mit ihm zusammenarbeiten.» Und SVP-Parteikollegin Natalie Rickli lobt, dass Stahls Liebe zum Sport auch in der Politik zum Ausdruck komme: «Er führt die Ratssitzungen motiviert, fair und kameradschaftlich.»
Jürg Stahl und der Sport – das ist eine grosse Liebe. Als Kunstturner und Leichtathlet nahm er an Wettkämpfen teil. Heute tritt er für die Männerriege Brütten ZH an Turnfesten an. Und er fährt Ski, zwischen 20 und 30 Tagen pro Winter. 2017 werden es deutlich weniger sein. Seine Ämter als Nationalratspräsident und Chef von Swiss Olympic beanspruchen ihn stark. Hinzu kommt ein 20-Prozent-Pensum bei der Kranken-versicherung Groupe Mutuel. Umso mehr ist Stahl darum bemüht, dass es der Familie gut geht: «Valérie ist es egal, welches Amt ich ausübe; für sie ist wichtig, dass ich da bin.» Darum versucht er, den Sonntagabend und jedes zweite Wochenende für die Familie freizuhalten. «Aber würde Sabine nicht so fest am Karren mitziehen, könnten wir als Familie nicht funktionieren.» Sabine Stahl arbeitet zwei Tage pro Woche im Marketing einer Pharmafirma. Dann ist Valérie in der Kita. Im Gegensatz zu seiner Partei ist die Fremdbetreuung für Stahl kein Problem: «Sie tut ihr gut.» Er sei selbst in einer Kita aufgewachsen: «In der Drogerie meiner Eltern.» Da gingen Freunde, Geschwister und Cousins ein und aus.
Auch Jürg Stahl hat Drogist gelernt. Nachdem sein Vater mit 59 Jahren an einem Herzversagen gestorben war, führte er das elterliche Geschäft in Töss ZH fast zehn Jahre lang weiter. «Für uns Männer ist es schwierig, wenn der Papi geht», sagt er und nimmt einen Schluck Süssmost. Stahl hat sich kürzlich medizinisch durchchecken lassen: «Ich bin viel gesünder als in meinen Single-Jahren.» Seit Valérie da sei, passe er besser auf sich auf. Sowieso sei er gelassener als früher. «Das ist ein Vorteil, wenn man spät Papi wird.» Stahl war 47, als Valérie zur Welt kam. «Es hat nicht sofort eingeschlagen.»
Valérie sei ein «Lumpebäseli». Die Kleine, als hätte sie ihn verstanden, wirft in hohem Bogen eine Handvoll Spaghetti auf den Teppich. «Sie holt mich wortwörtlich auf den Boden zurück», sagt Stahl lachend. Das hält ihn aber nicht vom Träumen ab – zum Beispiel von Olympischen Spielen in der Schweiz. Als Präsident von Swiss Olympic möchte er die Winterspiele 2026 unbedingt hierherholen. «Ja, wir können das!», sagt er. 2026 wäre Tochter Valérie 11-jährig. Zu jung für eine Athletin. Aber alt genug, um an vordersterFront mitzujubeln.
Bildlegenden
1: Familienzeit Jürg Stahl chauffiert seine Frau Sabine und Tochter Valérie über den gefrorenen Obersee in Arosa GR.
2: Kostbar Jürg Stahl geniesst die freien Tage in seiner Ferienwohnung in Arosa. Für Tochter Valérie gibt es eine Extramärchenstunde.
3: Lecker Tochter Valérie schmecken die Spaghetti à la Sabine Stahl – «Tomatensauce aus dem, was gerade da ist.»
4: Konzentriert Auf seiner Terrasse studiert Jürg Stahl das Programm für die Frühlings-session.
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