Einmal der Lehrer sein
Jürg Stahl (SVP) ist normal, unauffällig und etwas langweilig. Nun erhält er mit dem Nationalratspräsidium jene Rolle, die er sich lange gewünscht hat.
Artikel Tages-Anzeiger
Foto Dominique Meienberg
Er, der eigentlich längst schon eingesehen hat, normal und durchschnittlich zu sein – er möchte eben doch etwas ganz anderes: eine Bühne. Jürg Stahl, Zürcher SVPNationalrat, sucht sie nicht auf die laute, polternde Art, die man von seinen Parteikollegen kennt. Stahl tut dies wartend, ausdauernd: Seit 17 Jahren verharrt er schon im Nationalrat. Nun steht Stahl an einem Wendepunkt, vor einer «neuen Periode», wie er sagt. Am Montag wird er zum Nationalratspräsidenten fürs Jahr 2017 gewählt. «Wenn alles klappt», fügt er schnell hinzu. Wenn alles klappt, ist Stahl nächstes Jahr der höchste Schweizer: «Es ist schon unglaublich, dass das so einem wie mir passieren kann.» Einem unscheinbaren Typ mit Berufslehre, der bald der Vereinigten Bundesversammlung vorsitzt, Sitzungen leitet und repräsentative Aufgaben übernimmt.
«Seit ich eingesehen habe, dass ich als Politiker unspektakulär bin, geht es mir gut.»
Um zu verstehen, was das Amt für ihn bedeutet, muss man sich ein Klassenzimmer vorstellen. Die Schulklasse ist Stahls liebste Metapher, wenn er erklären will, wie die Gesellschaft funktioniert. Oder Politik. Oder Sport, seine zweite Leidenschaft. Er redet dann von den Lauten und den Ruhigen, auch jetzt, auf einem Spaziergang im Zürcher Zoo, den er als Treffpunkt vorgeschlagen hat. Hierhin kommt Stahl oft, er besitzt ein Jahresabo. Als seine Tochter, sein erstes Kind, vor einem Jahr geboren wurde, schenkte er ihr und seiner Frau Zooaktien.
Mehr Entgegenkommen
In einer Schulklasse also gibt es die braven Schüler, die angepasst sind, unauffällig. Es gibt die Klassenclowns, die Wichtigtuer, die Stars. Und es gibt den Lehrer, der für Ruhe und Ordnung sorgt. Jeder Mensch habe seine Rolle, sagt Stahl. Im Speziellen gilt das für Politiker und Sportler, mit denen er als Nationalrat und frisch gewählter Präsident von Swiss Olympic, dem Dachverband der Schweizer Sportverbände, täglich zu tun hat. Nun ist Stahls Moment ge kommen, und das gleich doppelt: Mit dem Amt als höchster Sportler und dem Nationalratspräsidium wird er nicht mehr der unauffällige Schüler sein.
Schon jetzt bemerkt er eine Veränderung. An diesem nassen Novembermorgen erzählt er von den Leuten, die ihn plötzlich anders anschreiben würden. Wenn er als Nationalrat Anfragen bekam, habe man von ihm erwartet, sich zu den Menschen zu begeben. Jetzt, als Vize- und baldiger Nationalratspräsident, heisse es plötzlich: «Sicher haben Sie viel zu tun, aber gerne würden wir Sie einladen . . .» Und sogar Freunde seien erstaunt, wenn er ihre Anrufe entgegennehme: Ob er denn dafür überhaupt noch Zeit habe? Stahl gluckst vor Stolz. Pfaue kreuzen den Weg, Kamele glotzen herüber.
Was steckt tatsächlich drin?
Es gibt noch eine zweite Veränderung, die Stahl nicht explizit nennt. Obwohl der 48-Jährige fast sein halbes Leben in der Politik verbracht hat, insgesamt 22 Jahre, davon 13 im Grossen Gemeinderat in Winterthur, war er in der Öffentlichkeit kaum präsent. Er kam einfach nicht vor. Ehemalige Winterthurer Wegbegleiter sagen, Stahl habe sich selten exponiert, man könne über ihn nicht viel sagen. Ausser, dass er ein Grundanständiger sei. Entsprechend formuliert er sein Motiv, warum er in der Politik ist: Er wolle mitgestalten, dort sein, wo Weichen gestellt werden.
Jetzt, da die Wahl näher rückt, ist das mediale Interesse an ihm gestiegen. Er erzählt von einem geplanten Porträt in seinem Lokalblatt, er zeigt ein Interview mit ihm, das kürzlich veröffentlicht wurde. Vorsorglich hat Stahl seinen Lebenslauf mitgebracht und überreicht ein Dossier mit der Überschrift: «Jürg Stahl – was steckt tatsächlich drin? Damit schlecht recherchierter Journalismus nicht abgeschrieben wird – oder eine wahre Geschichte!» Stahls Moment ist da, um aus dem Schatten zu treten. Und er geniesst ihn.
Bislang war er der Stille im Hintergrund. Ein netter Typ, den auch die Mitglieder aus den übrigen Parteien mögen. Mit dem man gut auch über anderes als Politik reden kann. Seit 1999 sitzt er in der Gesundheitskommission. Bei politischen Entscheiden habe er, der Direktionsmitglied beim Krankenversicherer Groupe Mutuel ist, sich aber nie von beruflichen Interessen leiten lassen, betont er.
Stahl sei der Konsens sehr wichtig, sagt Silvia Schenker, SP-Nationalrätin und langjährige Kommissionskollegin. Als Kommissionspräsident sei er fair gewesen und stets darum bemüht, alle zu Wort kommen zu lassen. In dieser Position habe er an Profil gewonnen, dafür erhielt er Anerkennung. Sonst, sagt Schenker, spiele er keine starke Rolle. Er suche die Aufmerksamkeit nicht und äussere sich nur selten. «Bei ihm hat man nicht den Eindruck, er erstrebe etwas.» Als er von seiner Fraktion als Nationalratspräsident vorgeschlagen wurde, eine Position, für die man sich in einer internen Wahl durchsetzen muss, war Schenker überrascht.
Stahl sagt, als Kommissionspräsident habe er einen guten Job gemacht. Das habe geholfen. Er profitierte aber auch von den Umständen: Nach der Bernerin Christa Markwalder (FDP) und dem Westschweizer Stéphane Rossini (SP) auf dem Sitz des höchsten Schweizers standen die Chancen für ihn als Zürcher nicht schlecht. Seine Parteikollegin Natalie Rickli sagt es so: «Seit er sich in der Fraktion bei der Nomination zum Nationalratspräsidenten durchgesetzt hat, ist er in dieser stärker verankert.» Davor galt er als eher blass.
Weder Klassenclown noch Star
Im Elefantenhaus setzt sich Stahl auf eine Bank und holt sein Döschen mit dem Schnupftabak hervor, während er weiterredet. Die «Tierli», er meint die Elefanten, hätten ein gutes Gedächtnis. Die Frage, welches Tier er denn am ehesten sei, versteht Stahl falsch. «Ich wäre am liebsten ein Pinguin», antwortet er. Weil sich die Leute an ihm erfreuen würden. Stahl wäre also gerne der Publikumsliebling? «Vielleicht ist das gar nicht mal so abwegig, wenn man an das kommende Jahr denkt», sagt er zögerlich. Jeder wolle schliesslich ein bisschen geliebt werden.
Wie er als Nationalratspräsident sein wird, darauf hat man im September einen Vorgeschmack erhalten. Es war bei der nationalrätlichen Debatte über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, sie dauerte über sieben Stunden. Als Vizepräsident löste Stahl am späteren Abend Nationalratspräsidentin Markwalder ab. Davor hatte Stahls Partei für Unmut gesorgt, weil Fraktionschef Adrian Amstutz seine Redezeit mit Fragen seiner Parteikollegen künstlich in die Länge gezogen hatte, weil Roger Köppel mit Markwalder über den Begriff Respekt stritt, weil die SVP, entrüstet über den Kommissionsvorschlag, Gift und Galle spuckte und die übrigen Ratsmitglieder als «Totengräber der Verfassung» bezichtigte. «Es geht nicht schneller, wenn Sie laut sind», ermahnte Stahl das Parlament, nachdem er den Vorsitz übernommen hatte. Er forderte GLP-Präsident Martin Bäumle während dessen Votum auf, endlich zu einem Ende zu kommen, und er rief die Parlamentarier in der Wandelhalle bereits zur Abstimmung in den Saal, als Bundesrätin Simonetta Sommaruga noch ihr Schlussvotum hielt.
Stört sich an Leuten, die «extrem laut» sind und sich «extrem wichtig» nehmen.
Stahl wird als Präsident nicht der Klassenclown oder der Star sein, auch wenn er ganz vorne, gut sichtbar für alle, auf seinem Stuhl sitzen wird. Er wird der Lehrer sein, der durchgreift, wenn es sein muss. Seine Haupterwartung an sich als Nationalratspräsident ist, dass ein geordneter Ratsbetrieb herrscht und alles korrekt abläuft. Mehr nicht. Die unzähligen rhetorischen Fragen, die seine Fraktion während der Debatte an Amstutz richtete, erklärt Stahl wieder mit seiner Metapher: ein Klassenstreich. Eigentlich waren nur zwei, drei Fragen abgesprochen, dann habe sich eine Dynamik entwickelt, die Kollegen stachelten sich gegenseitig an. Mit anzusehen, wie seine Partei an die Grenzen ging, sei für ihn nicht einfach gewesen. «Ich gebe zu, ich war angespannt», sagt er. Stahl schnupft den Tabak von seinem Handrücken.
Pinguin im Haifischbecken
Denn eigentlich stört er sich an Leuten, die «extrem laut» sind und sich «extrem wichtig» nehmen. Man sieht ihm an, dass er darunter gelitten hat: weil sie die ganze Aufmerksamkeit erhielten und von den Medien angefragt wurden, wie er sagt. Obwohl er ebenso hätte Auskunft geben können. Lange hat er versucht, sich in «diesem Haifischbecken in Bern» einzubringen. Und obwohl er es dank der Politik vom Drogisten in die Direktion eines der grössten Krankenversicherers der Schweiz gebracht hat, fiel er insgesamt einfach zu wenig auf, war zu uninteressant und im Ton möglicherweise zu wenig forsch.
«Vielleicht hat das mit meinem erlernten Beruf zu tun, einem Frauenberuf», sagt Stahl. Bei der Arbeit ständig Frauen um sich zu haben, als einstiger Berufsschullehrer und als ehemaliger Besitzer einer Drogerie, habe seinen Umgang sicher beeinflusst. «Seitdem ich aber eingesehen habe, dass ich als Politiker sehr unspektakulär bin, geht es mir gut.» Was ihn tröstet: Er wurde fünfmal wiedergewählt, kam als einer der Jüngsten in den Nationalrat und ist jetzt einer der Amtsältesten. «Das zeigt, dass ich relativ viel richtig gemacht habe», sagt Stahl. Bemerkenswert ist, dass er nie als Sesselkleber kritisiert wurde. Den netten Mitschüler lässt man in Frieden.
Herbe Niederlagen
Was seine Ehrfurcht vor der eigentlich unbestrittenen Wahl am Montag auch etwas erklärt, sind zwei Niederlagen, die Stahl sehr getroffen haben. Die eine war 2001, als er bei der Wahl für den Winterthurer Stadtrat in der Nachzählung mit nur einer Stimme Unterschied gegen die SP-Frau Pearl Peder gnana verlor, obwohl er in der ersten Auszählung noch vor ihr lag – ebenfalls mit nur einer Stimme. Ein halbes Jahr später folgte die zweite: Diesmal ging es um die Gesamterneuerungswahl des Stadtrats. Stahl wurde zwar gewählt, schied dann aber als Überzähliger aus. Beides kam unerwartet, es war ein Schock. «Das hat mich unheimlich auf den Boden geworfen.» Er zog sich aus der Lokalpolitik zurück.
Umso vorsichtiger ist Stahl jetzt. Nationalratspräsident zu sein, ist der Höhepunkt seiner Karriere. Er, der sonst gerne sprachlich verkleinert, benutzt ein grosses Wort: Eine Ehre sei das. Mehr kann nicht kommen, das weiss auch er. «Das ist die maximale Schuhgrösse für mich.»
Und was folgt danach? Wenn nichts mehr kommen kann? Stahl wird nach seinem Jahr als höchster Schweizer 50 Jahre alt sein.
Er bleibt bei den Pinguinen stehen. Eine Gruppe von Kindergartenkindern in grellen Regenjacken hat sich vor dem Gehege der Vögel versammelt. Stahl schaut entzückt auf die kleinen Pinguine, die in ihrem dicken braunen Flaum reglos dastehen. «Das werde ich dann mit meiner Frau und der Partei besprechen», sagt er. Vorstellen könnte er sich auch etwas ganz anderes als die Politik. Dann bittet er um ein Foto von sich und den «Tierli». Er wird es nachher seinem Töchterchen zeigen.