Monatsinterview

 

Der Brüttener Jürg Stahl hat sein Amt als höchster Schweizer abgegeben.

 

«Es ist gut, so wie es ist – Punkt.»

 

Jürg Stahl amtete für ein Jahr von November 2016 bis 2017 als Nationalratspräsident und galt als höchster Schweizer in diesem Amt. Nach einem Jahr hat er turnusgemäss das Amt abgegeben und erinnert sich nun zurück.

von Susanne Gutknecht

 

 

Am 27. November 2017 wurde ihr Nachfolger Dominique de Buman als neuer Nationalratspräsident gewählt und hat Sie in Ihrem Amt abgelöst. Wie hat es sich angefühlt, vom Amt als höchster Schweizer zurück in die Nationalratsreihen zu wechseln?

Obwohl es mittlerweile sechs Wochen her ist, habe ich diesen Moment als sehr stimmig in Erinnerung. Es ist gut, so wie es ist – Punkt! Ein sehr intensives Präsidialjahr liegt hinter mir. Nicht nur von der Arbeit her, auch emotional war dieses Jahr ein Höhepunkt in meiner politischen Karriere. Aber ich bin es gewohnt, Verantwortung zu übernehmen und im richtigen Moment wieder abzugeben. Das ist mir von meinem Berufsleben als auch von der Militärzeit durchaus vertraut und fühlt sich gut an.

 

Somit kommt keine Wehmut auf, wenn Sie zurückdenken?

Nein, ich schaue ohne Wehmut zurück. Man hat natürlich gewisse Privilegien genossen, stand aber im Gegenzug auch im öffentlichen Schaufenster.

 

Hatten Sie als «höchster Schweizer» einen Prominentenstatus inne? Hat man Jürg Stahl anders behandelt im Präsidialjahr als die Jahre zuvor als Nationalrat?

Es ist tatsächlich so, dass man als höchster Schweizer˃ angesehen wird. Prominentenstatus ist sicher zu viel gesagt, denn ich stand als Vertreter der Politik im Rampenlicht, nicht als Privatperson. Viele Gesprächspartner reagieren dennoch sensibler auf diese Person. Es wird auch jetzt wahrgenommen, dass ich es nicht mehr bin und ich werde darauf angesprochen. Im Rat selber haben sich viele bedankt für meine Arbeit, was ich positiv werte.

 

Wie fällt Ihr Fazit demnach über Ihr Präsidialjahr aus?

Ich kann sicher von einer soliden Leistung sprechen. Es gab keine gröberen Vorfälle im Ratssaal oder vermeintliche Unrechtmässigkeiten, die diesen Eindruck störten. Wir befinden uns im zweiten Jahr nach Gesamterneuerungswahlen, da haben sich die meisten Parlamentarier bereits die Ellbogen abgestossen und davon profitiert ein Präsident natürlich auch.

Ich wurde zudem von grossen Ereignissen verschont, auf die man als Nationalratspräsident keinen Einfluss hat, die das Gesamtbild der Leistung jedoch beeinflussen können. Der Erdrutsch in Bondo war zwar definitiv ein einschneidendes Erlebnis für die Schweiz, hinterliess jedoch weniger Spuren als ich dachte. Wirtschaftlich gab es keine Massenentlassungen und somit hatte ich eine gute Ausgangslage für mein Präsidialjahr. Das Handwerk der Sitzungsleitung und die Aufgaben des Präsidenten sind mir gut gelungen.

 

Sie haben gleichzeitig mit dem Nationalratspräsidialamt auch das Amt des Präsidenten von Swiss Olympic angetreten. Man spekulierte im Vorfeld, dass dies eine enorme Belastung sei, auch für Ihr privates Umfeld. Wie gross war der Hosenlupf zwischen Privatleben und Ämtern wirklich?

Ein grosser Hosenlupf – keine Frage! Aber meine Frau Sabine und ich haben den Entscheid bereits 2015 gemeinsam getroffen und uns darauf eingelassen. Wir wussten beide, dass ein intensives Jahr anstand und viel von uns als Paar verlangt würde. Dabei kann man die vier Sessionen, die drei Wochen dauern und die Auslandaufenthalte natürlich sauber planen und versucht nach Möglichkeit, mit eingestreuten, freien Tagen das Ganze aufzulockern.

 

Das tönt so, wie wenn alles gut planbar war – keine Überraschungen?

Auf das Amt wird man als Vizepräsident bereits vorbereitet. Man sieht in den Jahren zuvor, worauf es ankommt und wie hoch die Last ist. Das hilft, um selber eine Strategie für das Präsidentenamt zu entwickeln und allfällige «Fehler», die man bei seinen Vorgängern entdeckt, auszumerzen.

 

Was war Ihre Strategie?

Eine sehr gut geführte Terminabstimmung. Ich hatte die Hoheit auf meine Termine und in Zusammenarbeit mit meinem Team in Bern gelang es uns, eine intelligente und plausible Planung zu verwirklichen. Natürlich ist man enorm gefragt und sollte fast überall noch kurz auftauchen, um einen Anlass zu veredeln. Ich habe in meinem Präsidialjahr eine hohe Intensität gelebt, war belastbar und konnte es oft einrichten, noch kurz vorbeizuschauen an verschiedenen Anlässen. Jedoch immer im Wissen darum, dass es zuhause stimmt und meine Frau einen grossen Anteil geleistet hat.

 

Konnten Sie sich zuhause genügend entspannen?

Definitiv! Man steht unter hohem Druck – auch mit guter Planung. Daher war ich sehr privilegiert, dass es so gut klappte. Mit grosser Genugtuung haben wir auch erkannt, dass unser privates Umfeld, Familie und Freunde, sehr gut mitgespielt haben. Begehrlichkeiten an unsere Zeit und Präsenz wurden von vielen zurückgenommen und es wurde anstandslos akzeptiert, dass wir auch mal alleine an Treffen teilnahmen oder eben auch nicht. Wir waren gut geschützt durch unser Umfeld. Dafür gebührt allen ein grosser Dank.

 

Haben Sie Ihrem Nachfolger einige Tipps mit auf den Weg gegeben?

Nein, das ist nicht mein Stil. Ich will kein Besserwisser sein und habe mich bewusst zurückgenommen. Ich konnte mich wieder einmal ganz entspannt in der Wandelhalle aufhalten und mit anderen Nationalräten diskutieren.

 

Kaum haben Sie dieses Amt abgegeben, übernahmen Sie den Vorsitz des Bewerbungskomitees Sion 2026. Neben dem Swiss Olympic-Mandat also ein weiteres Amt. Sorgen Sie vor, dass es Ihnen nie langweilig wird?

(lacht) Ich trete mit meinen 50 Jahren natürlich noch nicht in den Ruhestand, dazu ist es zu früh. Ich hatte das unschätzbare Glück, in meinem Leben bereits zwei grosse Höhepunkte zu erleben, einerseits als Nationalratspräsident, andererseits als Swiss Olympic-Präsident. Diese beiden Jobs sind einzigartig in ihrer Themenvielfalt und ich bin privilegiert, mich dafür einsetzen zu können. Daher werde ich jetzt auch bei beiden Ämtern wieder Vollgas geben.

 

Musste Swiss Olympic im letzten Jahr zurückstecken? Der Nationalratspräsident und der Swiss Olympic Präsident kamen ja zur gleichen Zeit auf Sie zu.

Nein, Swiss Olympic musste nicht zurückstecken. Ich wusste im Vorfeld, dass ich beide Ämter meistern kann, sonst hätte ich sie nicht übernommen. Manchmal kommen solche Gelegenheiten auf einen zu und dann muss man zupacken. Das war bei mir so. Ich dachte mir: So, jetzt ist Jürg am Zug. Aber es war sicher auch gut, dass man im Voraus nicht bis zur letzten Konsequenz bereits weiss, worauf man sich einlässt (schmunzelt). Sport war schon immer ein wichtiger Pfeiler in meinem Leben und als Präsident von Swiss Olympic zu amten, ist ein Traum. Diese Gelegenheit musste ich beim Schopf packen.

 

Wie stark können Sie als Vorsitzender des Bewerbungskomitees für die Olympischen und Paralympischen Winterspiele von Ihrem vorhergehenden Amt als Nationalratspräsident profitieren?

Es ist sicher falsch, wenn man die Kandidatur zu stark mit meiner Person oder auch einem einzigen Kanton verknüpft. Der Fokus liegt auf dem Sport, nicht umsonst hat das Olympische Logo fünf Ringe und nicht nur einen! Es ist also weder eine Walliseroder Stahl-Kandidatur, sondern ein Schweizerischer Anlass. Und genau dort kommt mir sicher das Nationalratsjahr entgegen. Im Normalfall wirkt eine solche «höchste Schweizer»-Aura noch rund drei bis vier Jahre nach. Es ist kein Freipass im internationalen Austausch, aber der Einstieg, um mit anderen Akteuren weltweit ins Gespräch zu kommen, ist einfacher. Im Ausland ist man fokussierter auf Hierarchie und Titel – da hilft natürlich alles, was wir in die Waagschale werfen können.

 

Wenn man Sie sprechen hört, dringt das typische «Tschüge-Sportfeuer» durch, das man Ihnen immer nachsagt. Ist das so?

(lacht) Definitiv! Ich bin schon lange von diesen olympischen Ringen infiziert, war als Kampfrichter tätig und werde jetzt erstmals als NOK-Präsident an olympische Spiele reisen. Das ist eine grosse Freude, aber auch eine Verpflichtung. Botschafter können Türen öffnen und müssen dies auch tun. Dieses Umfeld ist sehr spannend und die Zusammenhänge ebenso – hier einzutauchen und Wege zu eröffnen - darauf freue ich mich.

 

Bleiben Sie ob so vieler Huldigungen in letzter Zeit als Mensch noch geerdet?

Ja, da habe ich kein Problem damit. Ich kenne meine Grenzen sehr genau, ebenso wie ich meinen Werten treu bleibe. Ich hatte viele Wegbegleiter bis hierhin. Von ihnen habe ich als Mensch viel gelernt, was mir heute weiterhilft. Ich bin nicht der Typ Mensch, der sich im Licht anderer sonnt. Ich habe die Bodenhaftung immer behalten.

 

Was bleibt Ihnen von Ihrem Nationalratspräsidium sicher noch hängen?

Ich habe es zwar gewusst und doch war ich überrascht: Die Vielseitigkeit, die wir in der Schweiz antreffen. Ich hatte einen sehr breit gefächerten Einblick in diese Vielseitigkeit, sei es die Sprachenvielfalt, die verschiedenen Wirtschaftssektoren, Vereine, KMUs – mein gutes Bauchgefühl für die Schweiz und ihre Vorzüge wurde kräftig genährt! Auch die Generationen, die heranwachsen, haben mich positiv gestimmt: Sie sind gut ausgebildet, interessiert an vielem und auch fokussiert auf ihrem Weg. Dieser positive Blick auf die Schweizer Gesellschaft hat gut getan. In den Medien und in der Politik erhalten wir leider sehr oft ein viel kritischeres Bild darauf und vergessen darüber, das Gute zu erwähnen.

 

Und was lassen Sie getrost zurück?

Ich den letzten sechs Wochen habe ich gemerkt, dass ich froh bin, wieder mehr Freiraum in meiner Agenda zu haben. Ich muss nicht mehr als erstes nach dem Aufstehen die Nachrichten durchgehen und mir ein Lagebild verschaffen. Diesen Druck, diese Erwartungshaltung an mich, es gut zu tun und informiert zu sein, habe ich mir natürlich selber auferlegt. Ich muss auch nicht mehr an 60 Sitzungstagen bereits morgens um acht Uhr die Glocke läuten, ob es draussen schneit, hagelt und ich nur mit Mühe nach Bern komme. Ich kann es gelassener angehen – es braucht mich jetzt nicht mehr überall. Das ist eine richtige Entlastung und fühlt sich gut an.

 

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