Unsere Gesundheit

 

Wie steht es um unser Gesundheitssystem?

 

Bundesrat Alain Berset hat mit seinem jugendlichen Elan «Gesundheit 2020» aufgetischt. Teilweise als Programm, mehr noch als Gedanken-anregende Diskussionsbasis. Das Parlament ist gefordert. Wie geht es damit um, können wir endlich eine nationale Gesundheitspolitik erwarten? OTX World hat sich mit Nationalrat Jürg Stahl zum Gespräch getroffen.

Text Hans Wirz

 

Jugendlicher Elan hin, zu Lösungen drängende Probleme her – das politische System lässt keine wirklich zügige Gangart zu, wenn es um notwendige Änderungen geht. Aber da Trägheit auch manche Torheit verhindert und das System sowieso nicht zu ändern ist, sind kleine Lösungsschritte zu Einzelproblemen wohl weiterhin bestimmend. Das sieht auch Nationalrat Jürg Stahl so. Vor gut 15 Jahren wurde der eidgenössisch diplomierte Drogist in den Nationalrat gewählt und sogleich in die «schwergewichtige » Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit eingesetzt. Dort waren Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen dringend gefragt. In der vergangenen Session hat der Nationalrat Jürg Stahl als zweiten Vizepräsidenten gewählt. 2017 wird er mit grosser Sicherheit «Oberster Schweizer» – vorausgesetzt, er amtiert nach den nächsten Wahlen weiterhin als Nationalrat der SVP. Sein Arbeitspensum dürfte zunehmen.

 

Herr Stahl, was muss man sich unter «hoher Belastung» der Ratsmitglieder vorstellen?

Vorweg: Belastung tönt eher negativ; ich sage lieber «Herausforderung». Ich glaube, alle Kolleginnen und Kollegen machen nämlich gerne, wofür sie gewählt wurden. Vom Stoff her muss man sehr viel lernen, einbeziehen und gegeneinander abwägen. Und die meinungsbildende Zusammenarbeit in Kommissionen, der Fraktion und vielen anderen Gesprächen erfordert ebenfalls viel Zeit. Die Stichworte dazu sind «Vorbereitung» und «Sitzungen».

 

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Grundsätzlich hängt die zeitliche Belastung natürlich davon ab, ob und in wie vielen Kommissionen man mitmacht. Beispielsweise muss man zwischen jeder Session je Kommission mit vier bis sechs Sitzungstagen rechnen, plus Vorbereitung – in meinem Fall multipliziert mit 61 Sessionen. Als Präsident einer Kommission kommen dann noch einige Tage dazu. Man muss also effizient und diszipliniert arbeiten können.

 

A propos Effizienz: Immer wieder sind die Kosten des Krankheitswesens ein Thema. Zu Recht?

Nach wie vor sind viele Abläufe ungemein kompliziert. Speziell mit der Zusammenarbeit zwischen den Leistungserbringern hapert es noch sehr. Andererseits werden die Menschen älter und man wünscht sich Fortschritte in der Medizin. Beides ist nicht gratis zu haben.

 

Welche Rolle spielen andere Faktoren?

Der Druck, das System ganzheitlich auf eine neue Basis zu stellen, ist nicht hoch. Weil eigentlich alle Leistungserbringer und die Bevölkerung letztendlich vom gegenwärtigen kostentreibenden Anreizsystem profitieren. Da bleibt man lieber bei dem, was man hat. Im Parlament bei den Ausgaben grosszügig sein, ist zudem leichter als restriktiv zu agieren.

 

Man vernachlässigt die längerfristigen finanziellen Folgen von grosszügigen Beschlüssen …

… ganz allgemein, ja. Und verlagert die negativen Konsequenzen auf die nächsten Generationen.

 

In unserem letzten Gespräch im Jahr 2010 haben Sie sich gewünscht, das System müsse einfacher werden. Ist es das inzwischen geworden?

Nein. Das Gesundheitswesen ist ja bereits sehr komplex und wird durch neue Regulierungen laufend noch schwerfälliger und teurer. Der Durchblick wird für die Bürger schwieriger; man ist froh, wenn eine Leistung bezahlt wird. Denn die Krankenkassen werden heute als Vollkasko-Versicherer gewünscht und gesehen. Die Bevölkerung zahlt tatsächlich viel, aber die Eingriffe kosten immer häufiger mehr als die einbezahlten Prämien.

 

Kann mehr Prävention Entlastung bringen?

Ja, sicher. Aber das muss in erster Linie durch persönliche Einsicht und Selbstinitiative geschehen. Stattdessen sehen wir die starke Tendenz, dass immer mehr Regulierungen und Vorschriften die Menschen zu Verhaltensänderungen zwingen sollen. Beispielsweise in Sachen Übergewicht, Fleischkonsum oder Vorsorgeuntersuchungen. So verlagern sich die Verantwortungen ganz allgemein von der einzelnen Person weg zum Staat. Was immer mehr kostet.

 

«Die längerfristige Balance wird vernachlässigt. Man müsste mehr an morgen denken.»

 

Was haben die Zielsetzungen «Gesundheit 2020» von Herr Berset ausgelöst?

Politik ist ein stetiger Prozess, bei dem es immer um Optimierung geht. Persönlich denke ich, dass – entsprechend seiner politischen Herkunft – Bundesrat Alain Berset zu wenig Härte in Sachen Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger zeigt. Andererseits gelingt es ihm, mit Geschick alle Leistungserbringer recht ausgewogen zu Zugeständnissen zu bewegen. Allgemein werden die Kosten und Folgekosten zu wenig ernst genommen. Wenn ein neues System oder eine neue Leistung mal beschlossen und installiert ist, gibt es kaum mehr ein Zurück. Die längerfristige Balance wird vernachlässigt. Man müsste mehr an morgen denken.

 

Welche Rolle spielen dabei die Begehrlichkeiten der Bevölkerung?

Die Information und Orientierung der Menschen ist wichtig und richtig, führt aber leicht zu Überkonsum. Wir haben den technischen und medizinischen Fortschritt, was erfreulich ist. Aber wie gehen wir damit um? Was ist angemessen, was überflüssig an Untersuchungen, Eingriffen und Therapien? Was ist ethisch vertretbar, was finanziell verkraftbar, auch wenn morgen die Wirtschaft nicht mehr so super laufen sollte?

 

Die Bevölkerung will ja alle gesundheitlichen Dienstleistungen auch immer subito und ganz in der Nähe?

Ja, und das ist für mich ein Phänomen. Denn die Konsumenten fahren sehr häufig dutzende Kilometer in Einkaufszentren, aber der Arzt muss gleich um die Ecke sein.

 

Alle reden von Ärztemangel. Andererseits haben wir in der Schweiz eine überdurchschnittliche Zahl von Ärzten. Ihre Meinung?

Einen Mangel haben wir nicht – vielleicht gibt es in einigen Disziplinen Probleme, welche gelöst werden müssen. Solange die Unterschiede in der Tarifierung gross sind, wird es Ärzte immer in Städte ziehen und Richtung Spezialdisziplin. Hausärzten wurde zu Recht der Rücken gestärkt, denn sie sind der richtige Ansprechpartner und können die Triage richtig machen. Was ich an der Situation kritisiere ist, dass die Infrastruktur der Ärzte – insbesondere in Einzelpraxen – nicht optimal genutzt wird. Dazu kommt, dass das Potenzial der Interdisziplinarität noch mehr ausgeschöpft werden muss.

 

Was werden die wichtigsten Themen sein, mit denen sich die Politiker ab 2015 zu befassen haben?

Die Altersvorsorge ist ein Generationenprojekt, in gewissem Sinne auch die schnell wachsende Sozialindustrie. Da haben wir nicht nur finanzielle Aspekte zu überdenken, sondern auch politische und Tabuthemen. Die Revision des Heilmittelgesetzes wird 2015 wohl abgeschlossen werden, aber das Unfallversicherungsgesetz wird ein Thema sein. Weitere Stichworte: IVRevision und Anpassungen bei den Fallpauschalen. Dort geht es um Vergleichbarkeit und um die Frage der Konzentration von Leistungsangeboten in den kleineren Spitälern. Wer soll zugunsten einer hohen Qualität was anbieten dürfen? Auch bezüglich E-Health brauchen wir dringend Fortschritte.

 

Jetzt sind Sie zweiter Vizepräsident und aller Voraussicht nach werden Sie 2017 Präsident des Nationalrats. Was bedeutet das für Sie?

Das Amt bedeutet mehr Verantwortung, ist also eine rechte und grosse Herausforderung. Deshalb schätze ich nicht nur das Vertrauen, das in mich gesetzt ist, sondern freue mich auf das Neue. Bereits als zweiter Vizepräsident sitzt man ja im Parlament nicht mehr unter den Fraktionskollegen, sondern auf der gegenüberliegenden Seite. Selbstverständlich heisst das nicht Rückzug, aber die Gewichtung der Geschäfte wird doch etwas verschoben.

 

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